Mythos: Der Mensch ist ein Pflanzenfresser

Aus Vegipedia
Version vom 19. Mai 2020, 09:11 Uhr von Martin (Diskussion | Beiträge) (Zur Kategorie "Pro-vegane Mythen" hinzugefügt)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Ein häufig von Veganer_innen vorgebrachtes Argument ist, dass der Mensch ein Pflanzenfresser sei und deshalb eine Ernährung, die tierische Bestandteile ausschließt (vegane Ernährung) gesünder sei als eine Ernährung, die auch tierische Produkte miteinschließt (Mischkost).

Tatsächlich:

  • Der Mensch befindet sich auf dem Trophieniveau 2,21 und ist daher ein Allesfresser.[1]
  • Epidemiologische Studien deuten darauf hin, dass tierische Bestandteile in der Ernährung nicht per se ungesund sind.[2]
  • Ernährungsorganisationen weltweit empfehlen einen gemäßigten Konsum tierischer Nahrungsmittel, da sie gute Nährstofflieferanten sind, ein zu hoher Konsum tierischer Produkte jedoch mit gesundheitlichen Nachteilen assoziiert ist.[3]
  • Eine gut geplante und supplementierte vegane Ernährung wird von Ernährungsorganisationen allerdings ebenfalls als gesund eingestuft.[3]

Verwendung

Bei der Behauptung, der Mensch sei ein Pflanzenfresser, wird sich häufig auf den Amerikaner Milton R. Mills MD und seinen dazu verfassten allerdings in keinem wissenschaftlichen Journal publizierten Artikel „The Comparative Anatomy of Eating“ bezogen.[4]
Mills ist Siebenten-Tags-Adventist und fällt durch religiös geprägte Auffassungen wie die wissenschaftlich widerlegten Hypothesen des Kreationismus und des Intelligent Design auf. So äußerte er sich in einem Interview mit der Seite vegparadise zur veganen Ernährung mit folgenden Worten:

This is a diet God designed as safe.[5]

Mit dieser Aussage bringt er zum Ausdruck, dass sich der Mensch seiner Auffassung nach nicht durch Anpassungen im Laufe seiner Evolution auf eine Ernährung spezialisiert hat, sondern bei seiner Erschaffung so designt worden sei, dass eben die pflanzenbasierte Ernährung für ihn gesund ist. Mills ist mit seiner Behauptung man könne die Eignung einer veganen Ernährung anhand von anatomischen Vergleichen mit anderen Tieren ableiten auf veganen Kongressen und in Dokumentationen zu Gast, bspw. in der öffentlich viel beachteten Dokumentation „What the Health“.[6]

In einem Interview mit Claus vom Youtube-Kanal "PlantBasedNews" äußerte Mills:

[…]if you look at our physiology, we are truly strict herbivores and that is why when we depart from a strictly plant based diet we become ill.[7]

Die Behauptung, dass eine Abweichung von einer strikt pflanzenbasierten Ernährung Krankheiten auslösen würde, deckt sich nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen (mehr dazu unter Auswertung der Global Burden of Disease Study).
Dass der Mensch ein Pflanzenfresser sei wird auch in anderen Medien veganen Hintergrundes verbreitet. So wird diese Behauptung beispielsweise auf den deutschen Youtube-Kanälen „Lichtblick“, „Vegan ist ungesund“ und weiteren propagiert.

Philosophische Einordnung

→ Hauptartikel: Veganismus

Zunächst muss angemerkt werden, dass es sich hierbei nicht um ein philosophisches Argument für den Veganismus handelt, sondern um eine Ernährungsempfehlung anhand einer angenommenen biologischen Sachlage.
Der Veganismus ist eine ethische Position, deren Befürworter Ausbeutung von und Grausamkeiten gegenüber Tieren vermeiden möchten. Da solche nicht nur für Nahrungsmittel ausgeübt werden, sondern auch beispielsweise für Kleidung, Kosmetik oder Unterhaltung, kann dieses Argument nicht hinreichend für den Veganismus argumentieren.

Ökologische Einordnung

Die Einteilung in Pflanzenfresser, Fleischfresser und Allesfresser ist eine vereinfachte Form des Modells der Trophieniveaus. Demnach können Organismen im Nahrungsnetz anhand ihrer Ernährung grob in Trophieniveaus eingeteilt werden - (1) Primärpoduzenten, (2) Pflanzenfresser, (3) Fleischfresser (verzehren hauptsächlich Pflanzenfresser), (4-5) Spitzenprädator (verzehren hauptsächlich Fleischfresser). Diese Trophieniveau-Einordnung kann einen Anhaltspunkt liefern, wie sich der Organismus in seinem Ökosystem platziert. Bonhommeau et al. ermittelten mit Verzehrsdaten der Jahre 1961–2009 die Trophieniveaus der Menschen. Im Jahr 2009 liegen die Trophieniveaus der Menschen je nach Region und sozio-ökonomischen Status zwischen 2,04 und 2,57. Im Schnitt liegen Menschen der Studie zu Folge im Jahr 2009 bei einem Trophieniveau von 2,21. Über die Jahre ist das Trophieniveau - insbesondere in Entwicklungsländern erkennbar - proportional zum wachsenden Fleischkonsum angestiegen. Im Gegensatz dazu ist das Trophieniveau der Isländer von 2,76 im Jahr 1974 auf 2,57 im Jahr 2009 abgesunken.[1] Demnach liegt der Mensch zwischen den Trophieniveaus 2 und 3 und ist daher als Allesfresser einzuordnen, hat dabei allerdings in der Regel eine Tendenz zum Pflanzenfresser.

Physiologische Einordnung

Das aufgeworfene Argument des Menschen als Pflanzenfresser zielt jedoch nicht auf die ökologische Einordnung ab, sondern auf eine angebliche physiologische Eignung. Typischerweise gehen mit einem Fokus auf eine Nahrungsquelle – Pflanzen oder Fleisch – physiologische Spezialisierungen einher. So können beispielsweise bestimmte Nahrungsbestandteile besser verdaut und aufgenommen werden, schädliche Bestandteile in der Nahrung vertragen werden oder essentielle Nährstoffe, die in der hauptsächlich gewählten Nahrung nicht vorhanden sind, vom Körper selbst hergestellt werden.
Bei Menschen ist auffällig, dass diese Fähigkeiten aufweisen, die ihnen sowohl den Konsum pflanzlicher als auch den Konsum tierischer Nahrung erleichtern. Ein Indiz darauf, dass der Mensch auch physiologisch auf eine Mischkost ausgelegt sein könnte. Auf der einen Seite stehen Anpassungen, wie ein doppeltes Auftreten des AMY1-Genes in Menschen aus Agrargesellschaften, das dazu führt, dass diese Menschen mehr Amylase in ihrem Speichel bilden und so Stärke besser verdauen können.[8] Auf der anderen Seite stehen beim Menschen auftretende Einzelnukleotid-Polymorphismen (vereinfacht Mutationen) im Zusammenhang mit einer Bildung des Enzyms Laktase über die Zeit des Säuglingsalters hinaus. Das Enzym ist verantwortlich für die Verdauung des Milchzuckers. Die Mutationen ermöglichen so erwachsenen Menschen die Verdauung von unverarbeiteter Milch. [9] Diese beiden Beispiele zeigen auch eindrücklich, wie schnell Anpassung an veränderte Selektionsdrücke sich im Erbgut niederschlagen können.

Cucinivore?

Die Beobachtung, dass Änderungen in der Ernährungsweise des Menschen in den letzten Jahrtausenden sich bereits im Erbgut des Menschen niedergeschlagen haben, wie auch das Faktum, dass Menschen ihre Nahrung häufig vor dem Verzehr bereits verarbeiten, brachte Furness et al. im Jahr 2015 zu der Einschätzung des Menschen als „Cucinivoren“. Verwiesen wird auf die 300.000-400.000 Jahre alte Vorgehensweise der Nahrungsverarbeitung durch Kochen. Zudem werden weitere Methoden angeführt, wie das Zermahlen und die Verarbeitung durch Lagerung, wie bspw. das Gären, das Fermentieren oder das Aushängen. Furness et al. zu Folge könnten diese Verhaltensweisen eine Ursache für die spezifischen Charakteristika des menschlichen Verdauungstraktes sein. So könnten neue Nährstoffquellen erschlossen worden sein ohne dass es physiologische Anpassungen des Verdauungstraktes dafür nötig gewesen wäre. [10]

Vitamin B12

Ein eindrückliches Indiz darauf, dass der Mensch kein reiner Pflanzenfresser ist, ist die mangelnde Fähigkeit, das in seinem Verdauungstrakt gebildete Vitamin B12 dort auch aufzunehmen, sodass der Mensch auf eine externe Quelle des Vitamins angewiesen ist. Es sind derzeit keine Pflanzen bekannt, die den Bedarf dieses Vitamins zuverlässig decken können. Daher wird von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zu einer Supplementation dieses Vitamins geraten, sollte man keine oder nicht ausreichend tierische Produkte zur Deckung des Bedarfs verzehren.[11]

Auswertung der Global Burden of Disease Study

Afshin et al. publizierten 2019 eine Studie, die auf Grundlage von epidemiologischen Daten ermittelte, welchen Einfluss spezifische Ernährungsgewohnheiten auf das Risiko der Entwicklung von ernährungsbedingten Krankheiten. Anzumerken ist, dass Studien dieser Art nur eine vorsichtige Einschätzung erlauben.[2] Den größten Einfluss attestieren Afshin et al. einem zu hohen Salzkonsum und einem zu geringen Konsum von Vollkornprodukten, Früchten, Nüssen, Samen und Gemüse, sowie zu wenig konsumierten langkettigen Omega-3-Fettsäuren vornehmlich aus Fischen und Meerestieren. Der Einfluss des Konsums anderer tierischer Produkte auf das Risiko an einer ernährungsbedingten Krankheit zu sterben ist eher gering. Während der Konsum von zu viel verarbeiteten Fleisch sich geringfügig negativ auswirkt, ist der Konsum von Milch ebenfalls schwach mit präventiven Auswirkungen assoziiert. Diese Ergebnisse können die Hypothese, dass der Mensch nicht geeignet sei tierische Produkte zu verzehren oder dadurch sogar krank werde nicht stützen.

Ernährungsorganisationen

→ Hauptartikel: vegane Ernährung

Ernährungsorganisationen empfehlen den regelmäßigen Konsum tierischer Produkte, da diese gut verfügbare Quellen für essentielle Nährstoffe darstellen. Die DGE empfiehlt auf Grundlage der von ihr ausgewerteten Studien täglich Milch und Milchprodukte und ein bis zweimal in der Woche Fisch zu essen. Wer Fleisch esse, solle nicht mehr als 300-600g in der Woche verzehren.[3] Eine gut geplante und supplementierte vegane Ernährung wird von Ernährungsorganisationen jedoch ebenfalls als bedarfsgerecht eingestuft (siehe vegane Ernährung).


Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Bonhommeau, S., Dubroca, L., Le Pape, O., Barde, J., Kaplan, D. M., Chassot, E., & Nieblas, A. E. (2013). Eating up the world’s food web and the human trophic level. Proceedings of the National Academy of Sciences, 110(51), 20617-20620.
    https://doi.org/10.1073/pnas.1305827110
  2. 2,0 2,1 Afshin, A., Sur, P. J., Fay, K. A., Cornaby, L., Ferrara, G., Salama, J. S., ... & Afarideh, M. (2019). Health effects of dietary risks in 195 countries, 1990–2017: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. The Lancet, 393(10184), 1958-1972.
    https://doi.org/10.1016/S0140-6736(19)30041-8
  3. 3,0 3,1 3,2 DGE(2017)10-Regeln der DGE
    https://www.dge.de/fileadmin/public/doc/fm/10-Regeln-der-DGE.pdf
    Archiv: https://web.archive.org/web/20200504205645/https://www.dge.de/fileadmin/public/doc/fm/10-Regeln-der-DGE.pdf
  4. Mills, M.(1996) The Comparative Anatomy of Eating, adappt.org,
    http://adaptt.org/archive/Mills%20The%20Comparative%20Anatomy%20of%20Eating1.pdf
    Archiv: https://web.archive.org/web/20200505183716/http://adaptt.org/archive/Mills%20The%20Comparative%20Anatomy%20of%20Eating1.pdf
  5. Mills, M.; im Interview mit vegparadise
    https://www.vegparadise.com/24carrot.html
    Archiv: https://web.archive.org/web/20191206144121/https://vegparadise.com/24carrot.html
  6. Andersen, K.; Kuhn, K.(2017) What The Health
    https://www.whatthehealthfilm.com/
  7. PLANTBASEDNEWS(03.01.2018)SCAVENGERS or HERBIVORES? Human Diet Explained - Dr. Milton Mills
    https://youtu.be/nS2_Q1NY8nU?t=50
  8. Perry, G. H., Dominy, N. J., Claw, K. G., Lee, A. S., Fiegler, H., Redon, R., ... & Carter, N. P. (2007). Diet and the evolution of human amylase gene copy number variation. Nature genetics, 39(10), 1256-1260.
    https://doi.org/10.1038/ng2123
  9. Tishkoff, S. A., Reed, F. A., Ranciaro, A., Voight, B. F., Babbitt, C. C., Silverman, J. S., ... & Ibrahim, M. (2007). Convergent adaptation of human lactase persistence in Africa and Europe. Nature genetics, 39(1), 31-40.
    https://doi.org/10.1038/ng1946
    • Furness, J. B., & Bravo, D. M. (2015). Humans as cucinivores: comparisons with other species. Journal of Comparative Physiology B, 185(8), 825-834.
      https://doi.org/10.1007/s00360-015-0919-3
    • Furness, J. B., Cottrell, J. J., & Bravo, D. M. (2015). Comparative gut physiology symposium: comparative physiology of digestion. Journal of animal science, 93(2), 485-491.
      https://doi.org/10.2527/jas.2014-8481
  10. Richter, M. et al. (2016) DGE-Position "Vegane Ernährung": https://doi.org/10.4455/eu.2016.021 - deutsch: https://www.ernaehrungs-umschau.de/fileadmin/Ernaehrungs-Umschau/pdfs/pdf_2016/04_16/EU04_2016_M220-M230_korr.pdf
    Archiv: https://web.archive.org/web/20200409171608/https://www.ernaehrungs-umschau.de/fileadmin/Ernaehrungs-Umschau/pdfs/pdf_2016/04_16/EU04_2016_M220-M230_korr.pdf